Die Stunden vor der Festnahme: St. Johannis in Schockstarre

Alexander Brock

15.12.2018, 21:28 Uhr
St. Johannis in Schockstarre: Nach den Taten am Donnerstagabend veränderte sich die Stimmung im Stadtteil plötzlich.

© Roland Fengler St. Johannis in Schockstarre: Nach den Taten am Donnerstagabend veränderte sich die Stimmung im Stadtteil plötzlich.

"Wie kann der Täter einfach so abtauchen?", fragt sich Max Kunde. Das aber ist bis zur Festnahme vielen Menschen durch den Kopf gegangen, vor allem aber diejenigen, wie Kunde, die im Stadtteil mit den drei Tatorten leben. Der Wahl-Nürnberger wohnt hier seit fünf Jahren. Mit seiner Schwester Anne besucht er gerade den samstäglichen Wochenmarkt vor der Friedenskirche am Palmplatz — unweit der drei Stellen, an denen am Donnerstagabend wahllos drei Frauen auf offener Straße niedergestochen wurden. Der ursprüngliche Berliner drückt mit seiner Frage aus, was nach Auskunft der Pfarrer und Kirchenvorstände in der Gemeinde in vielen Bürgern vorgegangen ist: die Aufregung, die Furcht, das mulmige Gefühl, weil es zwei Tage lang zu keiner Festnahme kam. "So eine Tat ist für dieses Viertel sehr ungewöhnlich", sagt er. St. Johannis habe bisher als beschaulicher, sicherer und friedlicher Stadtteil gegolten.
Christian Grau geht der Vorfall auch nicht mehr aus dem Kopf. Der junge Mann aus Gräfenberg verkauft hier am Fuße der Friedenskirche mit seiner Familie Weihnachtsbäume. Verglichen mit dem Samstag vor einer Woche, ist heute hier viel weniger los. Für ihn ist klar: Viele Leute haben nach den Bluttaten nur ungern einen Fuß vor die Türe setzen wollen. "Das kann ich verstehen. Mich beschlich auch ein mulmiges Gefühl, sobald die Dämmerung kam und es dunkel wurde", sagt der Händler. Grau hat das genutzt, was die Friedenskirche am Samstag anbot: Eine Kerze im  Gotteshaus anzünden zu können. Grau: "Dafür, dass die schwer verletzten Frauen bald wieder gesund werden."


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Die Kirchentüre stand offen, vier Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Kirchenvorstände und Seelsorger standen für besorgte Bürger bereit, die Gesprächsbedarf hatten. Ältere Menschen kamen, aber auch Familien mit Kindern. "Der Vorfall ist hier überall Thema, er bewegt die Menschen", berichtet Stefanie Reuther vom Evangelisch-Lutherischen Dekanat Nürnberg. Furcht, die durch starke Polizeipräsenz gemildert werden sollte. Notwendig aber ein wenig "ungewohnt" war es, als Einsatzkräfte sogar den Johannisfriedhof durchkämmten und nach der Tatwaffe suchten, so Pfarrer Ulrich Willmer. Mit Stöcken und Diensthunden streiften die Polizisten über das Gelände und zwischen den Gräbern hindurch. Gefunden wurde nichts.


Polizeisprecherin Elke Schönwald bestätigt, dass es bis zur Festnahme eine starke Polizeipräsenz im Stadtteil gab. "Wir bitten aber weiterhin insbesondere ein Paar, das am Donnerstag gegen 22.30 Uhr im Bereich der Bucherstraße unterwegs war und dem zweiten Opfer begegnet sein muss, sich bei der Polizei zu melden.“ Darüber hinaus, so Schönwald, werde ein Ersthelfer gesucht, der dem dritten Opfer in der Campestraße beigestanden habe. Auch er werde gebeten, sich bei der Polizei zu melden.
Die Ermittler verdächtigen den Festgenommenen, für alle drei Angriffe verantwortlich zu sein. Laut Schönwald deutet aber nichts auf eine terroristische Tat hin. Die Staatsanwaltschaft geht von Heimtücke aus. Das heißt, der Täter wollte heimlich, auf versteckte Art und Weise Opfer, die er zufällig wählte, schwer verletzen oder gar töten. Es gilt aber die Unschuldsvermutung, denn es handelt sich um einen Verdächtigen. Terroristische Attentäter suchen für ihre Absichten zumeist größere Menschenmengen auf. 


Da der Täter ausschließlich Frauen für seine Attacken aussuchte, nahmen die Ermittler auch Nürnberger Frauenhäuser in den Fokus. Hintergrund: Frauenhass könnte ein Motiv des Mannes sein. "Es gab einen Austausch zwischen Polizei und Frauenhaus. Mittlerweile wird aber ein Zusammenhang zwischen gefährdeten Frauen in der Einrichtung und den Taten in St. Johannis ausgeschlossen", sagt Gabriele Penzkofer-Röhrl, frühere Geschäftsführerin des Vereins "Hilfe für Frauen in Not".

Die drei Opfer sind mittlerweile alle außer Lebensgefahr und ansprechbar. Die Kleider der Frauen sind bei der Spurensicherung nach kleinsten Partikeln untersucht worden. Schönwald: "Die Kollegen müssen Zentimeter um Zentimeter danach absuchen."

Zum Samstagvormittag in der Friedenskirche gehörte mit Blick auf die blutigen Übergriffe auch eine Andacht. Pfarrer Ulrich Willmer gedachte dabei der Opfer. "Wir suchen nach Antworten, haben aber nur Fragen", sprach er. "Die Angriffe sind mitten in der Adventszeit passiert, in der Zeit, in der sich viele nach Frieden sehnen."


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