Budapest-Verfahren

„Sturheit und Eskalationsbereitschaft“: Heftige Reaktionen auf Mordversuch-Anklage gegen Hanna S.

Azeglio Elia Hupfer

nordbayern-Redaktion

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9.10.2024, 05:00 Uhr
Am 28. September fand die sechste Free-Hanna-Kundgebung vor der JVA Nürnberg statt. Hannas Anwalt Yunus Ziyal kritisiert die am Dienstag erhobene Anklage deutlich.

© Elia Hupfer, privat Am 28. September fand die sechste Free-Hanna-Kundgebung vor der JVA Nürnberg statt. Hannas Anwalt Yunus Ziyal kritisiert die am Dienstag erhobene Anklage deutlich.

Im sogenannten Budapest-Komplex hat die Generalbundesanwaltschaft am Dienstag Anklage gegen die Nürnbergerin Hanna vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München erhoben. "Die Angeschuldigte ist der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung hinreichend verdächtig. In diesem Zusammenhang wird ihr auch ein versuchter Mord sowie gefährliche Körperverletzung vorgeworfen", heißt es in der Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft.

Hannas Verteidigung veröffentlichte am Dienstag ebenfalls eine Pressemitteilung. "Für Hanna S., ihre Familie, Freund*innen und Kommiliton*innen ist die Sturheit und Eskalationsbereitschaft der obersten deutschen Anklagebehörde bitter. Das Oberlandesgericht München muss nun über die Zulassung dieser überdrehten und eskalativen Anklage befinden", sagt Hannas Anwalt, Yunus Ziyal.

Die Generalbundesanwaltschaft versuche weiterhin, "das Verfahren zu eskalieren, indem sie die Auseinandersetzung mit Neonazis als versuchten Mord einstuft - unbeeindruckt von der Wertung des höchsten deutschen Gerichts", sagt Ziyal. Der Rechtsanwalt bezieht sich dabei auf den Fakt, dass der Bundesgerichtshof sowohl bei Hanna S. als auch im Parallelverfahren gegen Maja T. den Antrag des Generalbundesanwalts ablehnte, den Haftbefehl auch wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes zu erlassen.

Der Haftbefehl beschränkte sich stattdessen auf den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der gefährlichen Körperverletzung. "Für die Einstufung als versuchtes Tötungsdelikt fehle es am erforderlichen Tötungsvorsatz", erklärt Ziyal.

Karlsruhe sendet Signale an Untergetauchte

Die Verteidigung erhebt weitere schwere Vorwürfe: "Das Handeln des Generalbundesanwalts, angefangen von der Haltung im Fall Maja T., einer Auslieferung nach Ungarn vor einem Verfahren in Deutschland den Vorzug zu geben, bis hin zur jetzigen Eskalation, Anklage wegen versuchten Mords zu erheben, lässt vermuten, dass hier keine nüchterne juristische Prüfung zu Grunde liegt, sondern übergeordnete Ziele verfolgt werden."

Im Budapest-Komplex wird seit rund eineinhalb Jahren nach weiteren Personen gefahndet. Ein Großteil der Gesuchten hatte erklärt, sich einem Verfahren in Deutschland stellen zu wollen, wenn eine Zusicherung erfolge, dass keine Auslieferung ins autoritär-populistisch regierte Ungarn erfolge. "Um jeden Preis" solle der Druck auf die Untergetauchten erhöht werden, schätzt Ziyal, "denn (versuchter) Mord verjährt nicht, die Ermittlungsverfahren könnten auf ewig in der Schwebe gehalten werden".

Vor der Anklage wegen Mordversuchs gegen Hanna konnte man bereits die Auslieferung von Maja im Juni 2024 als deutliches Signal an die Untergetauchten werten. Die besonders eilige und rechtsstaatswidrige Auslieferung von Maja nach Ungarn binnen Stunden nach der Auslieferungsentscheidung trotz erwartbarem Eilantrag von Majas Verteidigung wurde deutschlandweit heftig kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht untersagte am Morgen nach der Entscheidung zwar die Auslieferung, allerdings kam die Untersagung zu spät.

Der Linksparteivorsitzende Martin Schirdewan sprach daraufhin von einer "Schande für Deutschland". "Viktor Orban ist kein Demokrat und Ungarn wird kein rechtsstaatliches Verfahren garantieren. Es ist unerträglich, dass Deutschland Menschen an Autokraten ausliefert, statt ein rechtsstaatliches Verfahren vor eigenen Gerichten sicherzustellen." Die Nürnberger Juristin Ute Baumann-Stadler sagte im Gespräch mit nordbayern.de: "Mit Majas Auslieferung nach Ungarn hat mein Vertrauen in unseren Rechtsstaat einen Riss bekommen."

Im Fall Hanna ist ein Auslieferungsersuchen Ungarns trotz der Anklageerhebung durch die Generalbundesanwaltschaft rein juristisch weiter möglich. Dieses müsste dann allerdings von anderen Gerichten entschieden werden.

Auslieferungen nach Ungarn sind problematisch, da Viktor Orbán und seine Fidesz-Regierung demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien missachten, sodass Ungarn einer Autokratie gleichkommt. Die Unabhängigkeit von Medien und Justiz wurde stark beschnitten. Immer wieder wurden unliebsame Richter und Staatsanwälte mit Disziplinarmaßnahmen und Suspendierungen eingeschüchtert. Das Verfassungsgericht spielt beispielsweise als unabhängige Kontrollinstanz seit über zehn Jahren keine Rolle mehr und ist zu einem Instrument Orbáns verkommen. In der Vergangenheit wurden durch das EU-Parlament und die EU-Kommission immer wieder Mängel des ungarischen Rechtsstaats festgestellt. Die EU leitete gleich mehrere Verfahren gegen Ungarn ein.

Solikreis Nürnberg: "Ungeheuerlicher Vorwurf"

Der Solikreis Nürnberg organisiert seit Hannas Verhaftung am 6. Mai in Gostenhof regelmäßig Solidarität-Kundgebungen und Demonstrationen. So gab es beispielsweise seit der Inhaftierung bereits sechs Kundgebungen vor der JVA Nürnberg. Alex Schmidt, Pressesprecher des Solikreises, sieht in dem Vorgehen der Bundesanwaltschaft einen "deutlichen Versuch, die im Budapest-Komplex verfolgten Antifas mit derlei schwerwiegenden – absolut haltlosen – Vorwürfen zu dämonisieren, politisch zu isolieren und so letztendlich die Solidarität mit ihnen zu brechen."

Die Vorwürfe aus Karlsruhe seien für den Solikreis "ungeheuerlich", so Schmidt, der in der Anklage einen erneuten Anlauf sieht, die im Budapest-Komplex verfolgten Antifaschistinnen und Antifaschisten "als erfolglose Mörderbande darzustellen" und eine politische Motivation der Bundesanwaltschaft erkennen will. "Antifaschismus, welcher sich in Wort und Tat von den ‚antifaschistischen‘ Vorstellungen des Staats unterscheidet, soll delegitimiert, diejenigen, die ihn praktizieren, als Ansammlung von Schwerstkriminellen hingestellt werden", sagt Schmidt.

Die nächste Demonstration vom Solikreis ist bereits in Planung. Hunderte Menschen und ein breites politisches Bündnis werden am 26. Oktober um 15 Uhr am Kornmarkt in Nürnberg erwartet.