„Jedes Haus ist eine Wirtschaft“ in Pullendorf
23.10.2015, 16:05 UhrGeorg Stiefler steigt ein paar schiefe Stufen auf einen kleinen Hügel hinauf. Er stapft durchs Gras, vorbei an Obstbäumen. Ein Styroporblock an einem Ast dümpelt faul hin und her. Er soll die Bussarde abhalten, denn Stieflers fünf Hühner laufen frei herum.
Er steuert auf den sechs Meter hohen Glockenturm zu, packt das Seil und läutet die Glocke. Das macht er jeden Tag, seit 15 Jahren. Damals bauten er – er war früher Zimmerer – und sein Sohn Michael den Turm. Lautlos betet er dreimal am Tag zum Geläut „Engel des Herrn“. Morgens um 6, mittags um 12 und abends um 20 Uhr, im Winter um 18 Uhr. Erst wenn er zu Ende gebetet hat, verstummt die Glocke. Ist Georg Stiefler nicht da, gibt es auch kein Glockengeläut.
Der Turm ist Pullendorfs Mittelpunkt. Vier Häuser scharen sich darum. In einem davon wohnt Georg Stiefler mit seinem Sohn. Georg Stiefler ist mit 90 Jahren der älteste Einwohner. „Es ist so schön einsam und ruhig hier“, sagt er. Der jüngste Bewohner ist 20, elf Menschen leben in dem Dorf. Schulkinder gibt es nicht.
Michael Stiefler ist in Pegnitz geboren. Der 47-Jährige mag die Einsamkeit in Pullendorf. Das Stadtleben kennt er von Lehrgängen, die er für seine Arbeit als Lagerleiter bei R&B Automobile in Pegnitz besucht hat. „Das Stadtleben ist meins nicht. Da ist Krawall“, sagt er. Internet hat er keines. Aber das, das es in Pullendorf gibt, „ist ganz schlecht“.
Es ist still in „Pullendorf Stadt“, wie Michael Stiefler seine Heimat nennt. Doch bei Ostwind ist das Rauschen der Autobahn zu hören, am Horizont drehen sich vier Windräder.
„Pullendorf Land“ liegt oben auf der Hohenmirsberger Platte. Zwei Häuser, die offiziell zum Ort gehören. Die Straße, die sich von der Platte in Serpentinen nach Pullendorf hinunterschlängelt, endet dort. Deshalb verirrt sich selten jemand in den kleinen Ort. Höchstens Wanderer. Ein hölzerner Wegweiser zeigt vier Kilometer nach Vorderkleebach an, zwei Kilometer nach Püttlach.
Eine echte Wirtschaft gibt es nicht im Dorf. Aber: „Jedes Haus ist eine Wirtschaft“, sagt Georg Stiefler. Langweilig wird es seinem Sohn Michael nicht. „Ich bin fast keinen Tag daheim.“ Er ist Kommandant bei der Feuerwehr Hohenmirsberg und gleichzeitig das einzige Mitglied aus Pullendorf. Er geht gerne jagen und ist im Pfarrgemeinderat. Natürlich hat er ein Auto, sonst käme er nicht zur Arbeit. Besorgungen erledigt er in Pegnitz. Auch sein Vater fährt noch Auto, meistens nach Pottenstein, um einzukaufen.
Michael Stiefler er- zählt, dass es nicht weit weg vom heutigen Ort schon um 1100 ein Pullendorf gegeben hat. Im alten Steinbruch, der mittlerweile zugewachsen ist, wurde früher Sandstein abgebaut. Das Material wurde für die Elbersberger Kirche und die Basilika in Gößweinstein verwendet.
Mit den Jahren hat sich das Leben im Dorf verändert. Früher wurde Landwirtschaft betrieben, es gab Backöfen, in denen Brot für die Pullendorfer gefertigt wurde. Heute arbeiten die Bewohner auswärts. Einer in München, ein anderer in Bayreuth. „Von der Landwirtschaft lebt keiner mehr“, sagt Michael Stiefler. Im vergangenen Jahr hat der letzte Bauer die Viehhaltung eingestellt.
Große Augen
Michael Stiefler hat nie daran gedacht, Pullendorf zu verlassen. Zu sehr mag er die Ruhe. Und dass es kaum Straßenverkehr gibt. Wenn man Georg Stiefler fragt, ob er sich je vorstellen konnte, Pullendorf zu verlassen, macht er große Augen. Er sei doch dort geboren.
Michael Stiefler glaubt nicht, dass Pullendorf irgendwann ausstirbt. Eben weil es so still ist. „Viele sagen, sie würden gerne in so einem ruhigen Ort wohnen“, sagt Michael Stiefler. Doch die Jüngeren wandern trotzdem ab. Zurück bleiben die Älteren. Michael Stiefler schätzt den Altersdurchschnitt auf 60. Früher wohnten in drei der vier Häuser Mitglieder der Familie Stiefler, jeweils drei Brüder. Jetzt werden noch zwei der Gebäude von Stieflers bewohnt.
Zu jedem Wohnhaus gehört eine Scheune. Und nicht zu übersehen im hügeligen Zentrum: die Glocke. Als Georg Stiefler vor kurzem seinen 90. Geburtstag feierte, musste er Pottensteins Bürgermeister Stefan Frühbeißer versprechen, 100 Jahre alt zu werden, damit die Glocke stets geläutet wird.
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